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Warum das Recht Haben uns die Liebe kostet

Bereit zu sein, in Betracht zu ziehen, dass ich falsch liege. Auch dann, wenn ich überzeugt bin, recht zu haben, ist eine der tiefsten Formen von Bewusstheit. Denn das Ego lebt vom Recht Haben. Es nährt sich davon, die eigene Sichtweise als Wahrheit zu betrachten. In Wahrheit aber ist dieses „Recht Haben“ nur ein Versuch, sich selbst vor Schmerz zu schützen.

Über die Jahre haben wir alle innere Konstrukte erschaffen, ganze Systeme aus Überzeugungen, Meinungen und Rechtfertigungen, die uns Stabilität geben sollen. Doch diese Stabilität ist trügerisch. Sie ist kein Frieden, sondern Kontrolle. Das Ego ruft: „Ich habe recht!“, wenn es in Wahrheit sagen will: „Ich will mich sicher fühlen. Ich will nicht schuldig sein. Ich will nicht wieder verletzt werden.“

Doch wenn jeder glaubt, recht zu haben, gibt es kein objektives Richtig. Es gibt nur Perspektiven, nur Wahrnehmungen, gefiltert durch die Erfahrungen, Verletzungen und Ängste eines jeden Einzelnen. Wir verteidigen nicht die Wahrheit, wir verteidigen unsere Geschichten über die elt wie wir sie erlebt haben.

Solange wir unsere Sicht verteidigen, verteidigen wir nicht die Wirklichkeit! Wir verteidigen unsere Vergangenheit. Wir verteidigen die Kompensationen, die wir einst erschaffen haben, um nicht mehr fühlen zu müssen, was damals zu schmerzhaft war. Doch genau dadurch verschließen wir uns vor der Freiheit, etwas Neues zu erkennen.

Manchmal glauben wir, für etwas zu stehen, z.B. für Ordnung, Verlässlichkeit, für Werte, die uns wichtig erscheinen. Doch oft ist das, was wir für Prinzipien halten, in Wahrheit ein stiller Schutzwall gegen alte Gefühle. Ein Mensch etwa, der größten Wert auf Pünktlichkeit legt, glaubt vielleicht, dass es um Respekt oder Verlässlichkeit geht. Doch tief in ihm arbeitet eine andere Bewegung: In seiner Kindheit wurde er oft warten gelassen, übersehen, vielleicht vergessen. Damals fühlte er sich klein, unwichtig, ohnmächtig. Heute nennt er seine Strenge „Verantwortungsbewusstsein“. Doch jedes Mal, wenn jemand zu spät kommt, wird etwas in ihm berührt, das viel älter ist als die Situation selbst. Das Ego springt ein, um die Verletzung zu vermeiden, die es längst kennt, und verwandelt sie in Ärger, Härte, moralische Überlegenheit.

In solchen Momenten verteidigen wir nicht die Wahrheit, sondern unsere Geschichte. Wir glauben, uns zu schützen, aber wir halten uns gefangen.

Wenn dieser Mensch eines Tages innehält, nur für einen Atemzug, und sich erlaubt zu denken: Vielleicht hat das gar nichts mit mir zu tun. Vielleicht sehe ich nur durch meine alte Brille. Dann öffnet sich ein Raum. Ein Raum, in dem das Herz wieder atmen kann. Ein Raum, in dem nicht mehr Verteidigung, sondern Verständnis möglich ist.

Und vielleicht erkennt er plötzlich, dass der andere gar nichts „falsch“ gemacht hat, dass das Leben ihm gerade die Gelegenheit schenkt, etwas zu heilen, was er längst für abgeschlossen hielt. So ist es mit allem, was wir so leidenschaftlich verteidigen: hinter jedem „Ich habe recht“ versteckt sich ein „Ich will nicht wieder fühlen“.

Doch nur wer bereit ist, sich zu irren, kann wirklich sehen. Und nur wer loslässt, recht zu haben, kann wahrhaft lieben.

In Partnerschaften wird dieser Mechanismus besonders sichtbar. Zwei Menschen lieben sich. Und doch geraten sie immer wieder aneinander. Nicht, weil sie böse sind, sondern weil ihre alten Schutzsysteme miteinander kollidieren.„Du hörst mir nie richtig zu." „Doch, du verstehst mich nur nicht.“Was hier spricht, sind keine Erwachsenen. Es sind die verletzten Kinder in uns, die einst nicht gehört oder gesehen wurden.

Wenn zwei Egos aufeinandertreffen, die beide recht haben wollen, verliert die Liebe. Denn das Recht Haben trennt. Es verschließt den Raum, in dem Nähe entstehen könnte. Das Ego will verstanden werden, aber es kann selbst nicht zuhören. Es will Sicherheit, aber schafft Trennung. Es will Kontrolle, aber verliert die Liebe.

In solchen Momenten verpassen wir das Wesentliche: Wir verpassen die Gelegenheit, einander wirklich zu begegnen. Wir verpassen die Chance, durch den anderen etwas über uns selbst zu erfahren. Wir verpassen die Freiheit, die entsteht, wenn keiner mehr gewinnen muss.

Liebe beginnt nicht dort, wo wir recht haben, sondern dort, wo wir loslassen. Dort, wo wir uns erlauben, nicht zu wissen. Dort, wo wir still werden und spüren: Es geht nicht darum, wer richtig liegt. Es geht darum, wieder zu fühlen.

Das größte Geschenk in einer Beziehung ist nicht Bestätigung, sondern Bewusstsein. Wenn wir den Mut haben, falsch zu liegen, öffnet sich ein Raum jenseits von Recht und Unrecht. Ein Raum, in dem wir uns wirklich begegnen. Dort geschieht das, was das Ego niemals verstehen kann:

Verbindung ohne Verteidigung.

Liebe ohne Bedingung.

Wahrheit ohne Besitz.

ree

 
 
 

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