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Die leise Macht der Schuld

Es ist nicht die offensichtliche Schuld, von der ich heute sprechen möchte. Nicht jene, die wir empfinden, wenn wir einen Geburtstag vergessen, einen harschen Ton gegenüber einem geliebten Menschen anschlagen oder eine Verantwortung im Alltag schleifen lassen. Diese Form der Schuld ist sichtbar, greifbar, sie lässt sich klären, entschuldigen, vergeben – sie bewegt sich im Licht unseres Bewusstseins und wird selten zum Schatten.

Die Schuld, um die es hier geht, ist älter, tiefer, verborgener – ein leiser, kaum spürbarer Strom unter der Oberfläche unserer Seele, der über Jahre hinweg unser Handeln beeinflusst, unser Herz verhärtet, unsere Entscheidungen unterwandert, ohne dass wir es merken. Es ist die Schuld, die entsteht, wenn wir glauben, dass etwas in uns der Grund war, warum etwas zerbrochen ist, was eigentlich bleiben sollte.

Es ist die Schuld, die sich einnistet, wenn eine vielversprechende, lebendige Beziehung plötzlich stirbt, und wir zurückbleiben mit Fragen, die keine Antwort mehr finden. Es ist die Schuld, die sich zwischen zwei Menschen legt, wenn der geliebte Vater, die Schwester, der Freund aus dem Leben geht – unerwartet, plötzlich, vielleicht sogar mitten im Streit – und wir nie mehr sagen konnten, was gesagt werden wollte. Es ist die Schuld, die sich wie ein unsichtbarer Film über unsere Tage legt, wenn wir glauben, wir hätten etwas anders machen können – ja, müssen.

Und so tragen wir sie, diese unsichtbare Last. Wir sprechen nicht darüber. Oft wissen wir nicht einmal, dass sie da ist. Aber sie ist da. Sie flüstert in Momenten des Alleinseins. Sie zieht uns zurück, wenn wir lieben wollen. Sie bremst unsere Schritte, wenn wir etwas Neues beginnen.

Und sie ist ein Grund – vielleicht der tiefste –, warum wir so lange in unseren alten Schuhen verweilen.

Nicht, weil sie noch passen würden. Nicht, weil sie noch bequem wären. Sondern weil sie uns schützen. Denn unter der Schuld liegt der Schmerz und die Angst, wieder zu scheitern. Wieder jemanden zu enttäuschen. Wieder etwas unwiderruflich zu verlieren.

Solange wir die alten Schuhe tragen, bewegen wir uns in vertrauten Grenzen. Wir tun nicht zu viel. Wir riskieren nicht zu sehr. Wir bleiben in der Sicherheit des „Ich weiß, wie das geht“ – selbst wenn es weh tut, selbst wenn die Sohlen längst durchgelaufen sind. Wir benutzen die Schuld wie ein unsichtbares Band, das uns mit dem Vergangenen verknüpft, nicht weil wir darin Trost finden, sondern weil wir glauben, wir hätten keine Berechtigung, es hinter uns zu lassen.

Und so warten wir. Warten auf jemanden – ein Wesen, eine Instanz, ein Moment der Gnade – der uns lossprechen möge von dem, was wir uns selbst auferlegt haben.

Doch das Absurde ist: Wir haben uns selbst schuldig gesprochen. Und wir sind die Einzigen, die uns auch wieder befreien können.

Solange wir diese Verantwortung nach außen geben, bleibt unser Herz verschlossen. Aber wenn wir beginnen, ehrlich hinzusehen, wenn wir erkennen, wie sehr uns diese unbewussten Schuldgefühle in der Distanz halten – zu anderen, zum Leben, zu uns selbst –, dann beginnt etwas in uns zu schmelzen.

Denn Schuld ist kein Naturgesetz. Sie ist ein inneres Urteil. Und Urteile können überprüft werden. Schuld ist eine Illusion, die uns zurück hält! Von allem!

Vielleicht haben wir aus bestem Wissen gehandelt. Vielleicht waren wir selbst verletzt. Vielleicht war es einfach Zeit. Vielleicht war es nicht unsere Schuld – sondern unsere Geschichte. Solange wir an der Schuld festhalten, können wir nicht lernen, nicht den nächsten Schritt im Leben gehen.

Wenn wir diesen Mut aufbringen – den Mut, uns selbst aus der inneren Verbannung zu holen –, dann kommen wir wieder in den Fluss. Wir müssen uns nicht länger verstecken. Wir müssen das Leben nicht länger absitzen. Wir müssen nicht mehr so tun, als ginge es uns gut mit dem Wenigen, das wir fühlen.

Wir dürfen wieder tiefer in Verbindung gehen – mit unseren Liebsten, mit unserer Arbeit, mit der Welt und vor allem mit uns selbst. Denn jenseits der Schuld beginnt das Leben neu. Nicht in der Vergangenheit, die wir nicht ändern können, sondern im Jetzt – wo wir entscheiden dürfen, nicht länger im Schatten dessen zu stehen, was war, sondern im Licht dessen, was sein kann.

Und vielleicht, ganz vielleicht, erkennen wir am Ende: Wir haben nie wirklich versagt. Wir haben geliebt, so gut wir konnten. Und genau das darf reichen, um wieder loszugehen – barfuß, aufrecht, frei.



 
 
 

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