top of page

Der Leuchtturm in der Dunkelheit

Manche Seelen reisen durch dieses Leben mit tiefen Narben im Gepäck. Sie wurden nicht gesehen, nicht gehört, nicht geschützt. Andere wurden dominiert, manipuliert oder gar verletzt – körperlich, seelisch, manchmal unaussprechlich. Und oft geschah all das nicht irgendwo in der Fremde, sondern im engsten Kreis, bei jenen, denen wir vertrauten. Die erschütterndsten Erfahrungen sind nicht immer die lautesten, sondern jene, bei denen ein vertrauter Mensch sein Gesicht verändert – plötzlich, unerwartet, aus heiterem Himmel – und wir erkennen eine Seite, die wir nie für möglich hielten.

Solche Erlebnisse ritzen sich tief in unser Wesen ein. Sie stellen Fragen in uns auf, die wir oft jahrzehntelang mit uns tragen: Was habe ich falsch gemacht? Warum ist mir das passiert? Hätte ich es verhindern können? Wenn wir Kinder sind und solche Dinge erleben, gibt es in uns keinen Ort, um das Erlebte in Sicherheit zu bringen. Also suchen wir unbewusst nach Schuld – und oft legen wir sie auf uns selbst. Wir denken, wenn ich anders gewesen wäre, wäre das nicht passiert. Und aus dieser Verstrickung entsteht ein unsichtbarer Pakt: Ich werde mich opfern, damit das nicht wieder geschieht. Ich werde die Last tragen, damit es für andere leichter wird.

Doch diese Aufopferung ist eine große Falle. Denn sie lässt uns nicht nur Schmerz auf uns nehmen, der nicht der unsere ist – sie versperrt uns auch den Weg in unsere eigene Freiheit. Der Schmerz, den wir so „im Namen des Guten“ annehmen, beginnt sich in uns festzusetzen. Und irgendwann fühlen wir uns nicht mehr leicht, nicht mehr lebendig. Stattdessen leben wir in Rebellion oder Rückzug – kämpfen gegen das Leben oder entziehen uns ihm. Beides sind Strategien eines verletzten Herzens.

Und so tragen viele von uns einen unsichtbaren Rucksack – gefüllt mit Schuld, Traurigkeit und Angst. Ein Erbe, das nicht selten über Generationen weitergereicht wurde. Wenn wir dies erkennen, eröffnet sich eine stille, aber machtvolle Möglichkeit: Wir können das Glied in der Kette sein, an dem die Weitergabe des Schmerzes endet.

Das bedeutet nicht, dass wir das Unrecht gutheißen. Es bedeutet, dass wir uns entscheiden, den Kreislauf zu durchbrechen. Dass wir beginnen, mit Mitgefühl auf uns selbst und auf jene vor uns zu schauen. Dass wir vergeben – nicht, weil es verdient ist, sondern weil wir frei sein wollen. Dass wir unsere Gaben und Talente nicht länger zurückhalten, sondern sie in diese Welt hineintragen – als Beitrag für Heilung und Verbundenheit.

Indem wir das tun, werden wir zu Leuchttürmen. Nicht weil wir perfekt sind, sondern weil wir den Mut hatten, in unsere Dunkelheit zu steigen und dort ein Licht zu entzünden. Und wer dieses Licht einmal entzündet hat, kann nicht anders, als es weiterzugeben.

Wir sind nicht hier, um zu leiden – sondern um durch unser Sein ein neues Kapitel zu schreiben. Ein Kapitel, in dem das Leben wieder heil sein darf. Und wir mittendrin.



 
 
 

Comments


bottom of page