Wenn der Streit die Seele ruft
- Tom & Alex
- 16. Juli
- 2 Min. Lesezeit
Im Alltag, besonders in unseren engen Beziehungen, mit dem Partner, mit der Familie, mit Menschen, die uns nahestehen, geraten wir immer wieder in kleine oder größere Auseinandersetzungen. Oft glauben wir, der andere habe etwas getan oder unterlassen, das eine Grenze überschritten hat. Wir spüren Ärger, Enttäuschung oder Rückzugstendenzen. Unsere innere Stimme sagt: „So kann man nicht mit mir umgehen.“ Und scheinbar hat sie sogar recht. Auf der Ebene des Egos, das gelernt hat, sich zu schützen und das eigene Terrain zu sichern.
Doch wenn wir den Mut haben, einen Schritt tiefer zu gehen, werden wir erkennen: Diese Grenzen, von denen wir glauben, sie seien selbstverständlich, sind nicht in Stein gemeißelt. Sie sind in uns entstanden, und zwar oft lange bevor wir überhaupt wussten, wer wir wirklich sind.
Viele dieser inneren Grenzen stammen aus einer Zeit, in der unser Nervensystem noch kein stabiles Fundament hatte, aus Kindheitstagen, in denen wir Erlebnisse nicht einordnen konnten, weil der Kontext, die Sprache, die Reife noch fehlten. Was blieb, war das Gefühl: „Das ist zu viel.“ Oder: „Ich bin ausgeliefert.“
Diese Gefühle waren zu groß, zu überwältigend. Sie erzeugten eine Ohnmacht, die wir nicht aushalten konnten. Also entwickelten wir Überlebensstrategien: Rückzug in die innere Höhle. Kontrolliertes Funktionieren. Überanpassung. Rebellion. Schweigen. Geschäftigkeit. Alles, was half, den Schmerz nicht mehr zu spüren.
Und dann, Jahre später, Jahrzehnte vielleicht, steht uns ein geliebter Mensch gegenüber, sagt einen Satz, tut etwas scheinbar Unbedeutendes, und zack, die alte Wunde pocht. Nicht, weil der andere etwas Falsches tut. Sondern weil in uns eine Erinnerung wachgerufen wird, die tief in unserem Zellgedächtnis sitzt: „Das darf nie wieder passieren.“
Was wir für Grenzverletzung halten, ist oft das Echo einer lange vergangenen Ohnmacht.
Wenn wir das verstehen, können wir einen heilsamen Weg wählen. Anstatt in alte Muster zu fallen, das beleidigte Schweigen, die scharfe Reaktion, das sich Zurückziehen oder Angreifen, dürfen wir innehalten. Nicht mit dem Verstand die Situation analysieren, sondern mit dem Herzen hinspüren: Was wird gerade in mir berührt? Welches Gefühl aus der Vergangenheit klopft hier an?
Und wenn wir das Gefühl willkommen heißen, es anerkennen, atmen, weich werden, beginnt etwas Wunderbares: Wir steigen aus dem Automatismus aus. Wir erkennen, dass nicht der andere schuld ist, sondern dass etwas in uns nach Zuwendung ruft.
So kann aus einem potenziellen Streit ein Moment der Nähe entstehen. Wir begegnen uns selbst, und dadurch auch dem anderen, mit mehr Mitgefühl. Vielleicht lächeln wir sogar über die Szene, die uns noch vor kurzem aus der Fassung gebracht hätte. Vielleicht erkennen wir im Verhalten des anderen nicht einen Angriff, sondern einen stummen Hilferuf.
Und dann geschieht das, was in Beziehungen das Wertvollste ist: Wir sind nicht mehr Gegner in einem Streit. Sondern Weggefährten, die einander helfen, alte Wunden zu heilen.
Die Liebe, die wir dann spüren, ist keine romantische Idee. Sie ist eine gelebte Wahrheit. Und sie beginnt in dem Moment, in dem wir aufhören zu kämpfen und anfangen zu fühlen. Dadurch öffnet sich mehr und mehr das Feld.

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