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Die leise Stimme nach dem Bruch

Manchmal verändert eine schwere Krankheit oder eine lebensbedrohliche Erfahrung nicht nur unseren Körper, sondern unser gesamtes Erleben von Welt. Dinge, die wir für selbstverständlich hielten, wie Gesundheit, Kontrolle oder Zukunft, greifen plötzlich nicht mehr. Der Boden, auf dem wir standen, trägt nicht wie erwartet. Und in diesem Moment verschiebt sich etwas Grundlegendes in uns. Die Welt wirkt fragiler, durchlässiger, manchmal auch fremd. Was gestern sicher schien, ist heute nur noch eine Möglichkeit.

Aus solchen Erfahrungen nehmen wir oft neue Glaubenssätze mit. Manche schützen uns, andere engen uns ein. Wir werden vorsichtiger, kontrollierter, wachsamer. Unbewusst geben wir etwas ab: Leichtigkeit, Freude, eine gewisse Unschuld. Nicht aus Schwäche, sondern weil wir gelernt haben, dass das Leben uns überraschen kann, manchmal schmerzhaft. Also halten wir uns zurück, funktionieren besser, passen uns an. Wir lernen, stark zu sein. Und oft fühlt sich dieses Funktionieren sogar gut an. Alles scheint zu stimmen: Struktur, Sicherheit, Erfolg, Anerkennung. Und doch ist da diese leise Stimme in uns. Eine, die wir lieber überhören. Eine, die wir mit Aktivität, Vernunft und Lärm zudecken.

Diese Stimme trägt etwas Altes in sich. Etwas, das lange keinen Raum mehr hatte. Sie fragt nicht nach Leistung, sondern nach Wahrheit. Nicht nach Durchhalten, sondern nach Lebendigkeit. Und wir ignorieren sie, bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr zu überhören ist. Manchmal braucht es genau diese Brüche im Leben, um uns auf etwas aufmerksam zu machen, das wir aus den Augen verloren haben. Vielleicht ging es nie darum, uns zu bestrafen oder zu schwächen. Vielleicht wollte das Leben uns erinnern.

Zuzuhören fühlt sich anfangs ungewohnt an. Vielleicht sogar beängstigend. Doch genau dort beginnt Befreiung. Was auch immer diese Stimme sagt, wenn wir ihr Raum geben, macht sie uns ganzer. Sie integriert die Teile von uns, die wir weggeschoben, kontrolliert oder bekämpft haben. Und je mehr von uns wieder dazugehören darf, desto weniger müssen wir aushalten.

Resilienz bekommt hier eine andere Bedeutung. Sie entsteht nicht daraus, härter zu werden oder sich noch mehr zusammenzureißen. Sie wächst dort, wo innere Kämpfe aufhören, weil nichts Wesentliches mehr ausgeschlossen ist. Resilienz bedeutet dann nicht, mehr zu ertragen, sondern weniger gegen sich selbst kämpfen zu müssen. Nicht das Durchhalten macht uns stabil, sondern die innere Stimmigkeit, die entsteht, wenn wir uns selbst nicht länger verlassen.

In dieser Ganzheit fallen die Kämpfe ab. Nicht, weil das Leben einfacher wird, sondern weil wir aufhören, Teile von uns zu bekämpfen. Wir werden nicht stärker im Sinne von widerstandsfähiger, sondern vollständiger. Und vielleicht ist genau das der leise Sinn hinter manchen Erfahrungen: dass wir nicht lernen, mehr auszuhalten, sondern endlich beginnen, uns selbst wieder ganz zu begegnen.

ree

 
 
 

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