Alte Schuhe
- Tom & Alex
- 26. März
- 3 Min. Lesezeit
Du gehst deinen Weg, wie du ihn seit Jahren gehst, Schritt für Schritt, in der gewohnten Geschwindigkeit, im gewohnten Rhythmus, durch einen Alltag, der dir vertraut ist und der, trotz seiner Gleichförmigkeit, eine gewisse Sicherheit gibt – nicht zuletzt wegen der Schuhe, die dich schon so lange begleiten und dir über all die Jahre das Gefühl gegeben haben, dass du geschützt bist. Diese Schuhe, die dich durch Regen und Sonne, durch Geröll und Asphalt getragen haben, waren anfangs besonders schön, besonders individuell, und sie waren verlässlich – fest, solide, für alle Untergründe geeignet, ein Modell für alle Lebenslagen, so dachtest du damals, als du sie wähltest. Du hast sie so gewählt, weil du müde warst vom Suchen und vom Ausprobieren, denn die Zeit davor war voller Experimente gewesen – eine Phase, in der du Schuhe angezogen hast, die dir nicht passten, die an anderen großartig aussahen, dich aber scheuern und stolpern ließen, weil sie nie wirklich für deine Füße gemacht waren. Du bis sogar in Schuhen anderer gelaufen. In den Schuhen deiner Eltern, du hast versucht, mit den Erwartungen deiner Lehrer zu laufen, hast dich in die Formen gepresst, die Freunde oder Ideale vorgaben, und jedes Mal, wenn du gemerkt hast, dass du nicht frei atmen konntest, hast du es eine Weile ignoriert, bis die Blasen zu schmerzen begannen und du wieder barfuß weiterlaufen musstest – verletzt, aber wenigstens wieder du selbst. Und genau aus dieser Müdigkeit, aus dieser Verletzlichkeit, aus der Angst heraus, dich noch einmal wund zu laufen, hast du dich für ein Paar entschieden, das dir versprach, dich nicht im Stich zu lassen – ein stabiler, schlichter Schuh, mit dicker Sohle und festem Halt, der zwar nicht die Welt veränderte, aber dir das Gefühl gab, mit ihm könntest du sie überleben.
Heute morgen, beim Anziehen deiner geliebten Schuhe ist etwas anders. Es beginnt vielleicht mit einem grossen Knall oder vielleicht auch nicht, einer kleinen Kriese oder mit einer Grossen. Mit einem lauten Umbruch, oder mit etwas scheinbar Belanglosem – einem Druck am Fuß, einem leichten Scheuern, das gestern noch nicht da war, heute aber nicht mehr weggeht und morgen wahrscheinlich nicht mehr zu übersehen sein wird.
Heute spürst du etwas, das du lange nicht gespürt hast: Diese Schuhe tragen dich nicht mehr, sie passen nicht mehr, sie engen dich ein, sie verhindern mehr, als sie schützen, und sie drücken nicht nur an der Ferse, sondern an der Schwelle deines ganzen Wesens.
Du bleibst stehen, mitten im Schritt, schaust auf deine Füße und beginnst zu ahnen, dass sich nicht der Schuh verändert hat, sondern du selbst – dass deine Bewegungen, dein Gang, vielleicht sogar dein Ziel nicht mehr zu dem passen, wofür dieser Schuh einst gemacht war.
Und plötzlich kommt sie: die Angst, nicht mehr getragen zu sein, die Angst, erneut barfuß gehen zu müssen, den Boden unter den Füßen direkt zu spüren, mit all seinen Unebenheiten, seiner Kälte, seiner Unvorhersehbarkeit – denn du erinnerst dich, wie weh es damals tat, als du dir die Zehen aufgeschlagen, dir Splitter eingetreten, dir die Füße verbrannt hast.
Aber was jetzt? Barfuß? Wirklich? Der Gedanke macht dich nervös.
Denn du erinnerst dich auch an das Barfußlaufen. An das rohe, unmittelbare Gefühl. An die Verletzlichkeit.
Du zögerst. Dann ziehst du sie aus. Die alten Schuhe.
Und plötzlich ist da wieder der Boden – nicht gefiltert durch Gummi oder Leder, sondern echt, unmittelbar, direkt. Du spürst jede Unebenheit, jedes Kieselsteinchen, jeden Wechsel zwischen warmem Asphalt, feuchter Erde, kühlem Gras, und mit jedem Schritt wächst in dir das Gefühl, dass du etwas wiederfindest, das du nie wirklich verloren, sondern nur tief vergraben hattest: die Verbindung.
Du erinnerst dich, dass es nie um den perfekten Schuh ging, sondern darum, ob du überhaupt noch spürst, wohin du gehst – und dass all die Schutzschichten, die du dir angezogen hast, aus der verständlichen Sehnsucht nach vermeintlicher Sicherheit entstanden sind, sich aber irgendwann zu einem emotionalen Panzer verwandelt haben, der dich nicht nur vor dem Schmerz, sondern auch vor der Lebendigkeit bewahrt hat.
Die alten Schuhe waren nie das Problem. Sie waren ein notwendiger Begleiter, ein Werkzeug, vielleicht sogar eine Rettung – aber sie waren nicht du.
Und so verstehst du in diesem Moment, mitten auf deinem Weg, barfuß und offen, dass Veränderung nicht mit einem neuen Ziel beginnt, nicht mit einem neuen Schuh, sondern mit dem Mut, die eigenen Füße und den Boden wieder zu spüren, sich dem Leben direkt auszusetzen, nicht mehr geschützt, aber endlich wieder lebendig - mit allem, was das Leben uns schenkt: Schmerz und Freude, Unsicherheit und Freiheit, Risiko und Lebendigkeit.
Denn nur wer barfuß gegangen ist, weiß wirklich, was es heißt, den eigenen Weg zu spüren.
Du fühlst. Du lebst.

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