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Der Raum jenseits der Enttäuschung

Ohne Erwartungen kann es keine Enttäuschungen geben. Und doch tragen wir sie in uns, oft unausgesprochen, manchmal klar formuliert, manchmal verborgen im Unter- oder gar Unbewussten. Sie wirken wie unsichtbare Fäden, die wir an unser Umfeld knüpfen, in der Hoffnung, dass jemand sie aufnimmt und uns bestätigt, uns erfüllt, uns trägt. Werden diese Fäden nicht gehalten, erleben wir die schmerzliche Enttäuschung. Darauf folgt meist nicht das Loslassen, sondern noch mehr Erwartungen, noch subtilere Formen von Kontrolle, noch engere Versuche, das Leben zu zwingen, sich nach unserem Bild zu formen.

Doch sobald wir den Ursprung dieser Erwartungen erkennen, lösen sie sich wie Nebel im Licht der Sonne auf. Denn Erwartungen entspringen nicht der Liebe, sondern dem Mangel. Sie sind Versuche, eine innere Leere durch äußere Antworten zu füllen. Verstehen wir dies, beginnt der stille Prozess der Befreiung. Wir sind dann nicht länger abhängig von der Erfüllung unserer Wünsche durch andere, aber auch die scheinbare „Unabhängigkeit“ verliert ihre Bedeutung. Denn Unabhängigkeit ist nur die Kehrseite derselben Münze, immer noch gebunden an das Spiel von Mangel und Erfüllung, Nähe und Distanz, Hoffnung und Angst.

Wenn dieses Spiel endet, wenn das Karussell der Erwartungen und Enttäuschungen stillsteht, öffnet sich ein Raum in uns, den wir oft seit unserer Kindheit nicht mehr betreten haben. Ein Raum, in dem es still wird. Im ersten Moment wirkt er befremdlich, beinahe leer. Der Verstand, der uns sonst unablässig mit Plänen, Sorgen und nächsten Schritten füttert, wird leiser, und wir sind mit uns selbst konfrontiert.

Doch wer sich traut, in diesem Raum zu verweilen, entdeckt nach und nach das Verborgene: in den verstaubten Ecken liegen unsere vergessenen Träume, unsere Ideale, unsere ungebändigte Lebenslust. Stück für Stück beginnen sie wieder zu leuchten. Und mit jedem Blick, den wir dorthin richten, begegnen wir uns selbst ein Stück tiefer.

Das kann anfangs verunsichern, weil wir gelernt haben, unser Glück im Außen zu suchen – in Bestätigung, in Anerkennung, in materiellen Dingen oder in Beziehungen, die uns etwas geben sollen. Doch wenn wir den Blick nach innen richten, entdecken wir, dass in uns selbst Schätze verborgen liegen, die größer sind als alles, was das Außen uns je geben könnte. Unsere Talente, unsere ureigenen Gaben, die Geschenke, die wir in dieses Leben mitgebracht haben, beginnen sichtbar zu werden, zuerst für uns selbst, dann für andere.

So entsteht Sinn. Nicht als Ziel, das wir erreichen müssen, sondern als ein Strahlen, das von innen nach außen wirkt. Eine Erfüllung, die wir vergeblich im Außen gesucht haben, tritt hervor, wenn wir aufgehört haben, von dort etwas zu erwarten.

Und am Ende führt uns dieser Weg genau dorthin zurück, wo wir immer schon sein wollten: zu uns selbst.

ree

 
 
 

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